Krimitipp Januar: Hannah Richell, „Das Wochenende“ Alles hört sich wunderbar an: ein Mai-Wochenende auf dem Land. Ein Wiedersehen mit alten Freunden. Alle kommen, natürlich mit Familie. Die Jugendlichen maulen, weil es kein Netz gibt. Unvorstellbar zum Beispiel für Scarlet, 16, Tochter von Fernsehstar Dominic Davies. Er ist der Promi im Freundeskreis. Dominic ist ein berüchtigter Juror der Sendung „Star Search“. Berüchtigt, weil er die Teilnehmer oft unbarmherzig und brutal auseinandernimmt. Er behauptet: Das ist die Show, das muss ich machen. Doch die Freunde kennen Dominic und wissen: Er war schon immer das Alphamännchen, jeder ist für Dominic ein Konkurrent. Bei ihm konnte sogar Würstchengrillen zum Wettbewerb ausarten!
Darüber machen sich Jim und Suze Miller gerne mal lustig. Die Millers reisen mit ihren drei Kindern an. Jim und Dominic könnten nicht gegensätzlicher sein. Denn Jim hat zwar reizende Kinder, doch sonst, na ja ... Sein Standardoutfit sind schlabberige Shorts und abgerockte Turnschuhe. Und von den vielen Ideen, mit denen Jim Geld machen wollte, hat er keine einzige umgesetzt. Dominic kann so etwas nicht verstehen. Er, der Strahlemann, gutaussehend, teure Klamotten, immer erfolgreich. Für Dominic ist klar: Alle sind jetzt so Mitte 40 und sollten ihr Leben doch auf die Reihe gekriegt haben. Doch was das sein soll, dieses „auf die Reihe kriegen“, darüber gehen die Meinungen deutlich auseinander.
Der Treffpunkt: ein Glampingplatz in Cornwall. „Wildernest“ haben Max und Annie Kingsley ihn getauft. Sie sind vor etwa einem Jahr weg aus London, haben ihr gutes und bequemes Leben eingetauscht gegen dieses Projekt. Nachhaltiger Ökotourismus, aber natürlich luxuriös. Glamping eben. Man will schließlich eine zahlungskräftige Kundschaft anlocken. Vor sechs Jahren haben Max und Annie ein Kind adoptiert, Kip. Heute ist der zwölf Jahre alt und ein schwieriger Junge. Seine Kindheit in einem verwahrlosten Elternhaus und diversen Pflegefamilien hat tiefe Spuren hinterlassen. Er tut sich schwer mit anderen Menschen, hortet immer noch heimlich Essen, weil er früher tagelang hungern musste. Für Kip, so denken Max und Annie, ist das ein Neuanfang, und sie hoffen darauf, dass er sich in seinem neuen Zuhause auf dem Land irgendwann wohlfühlt.
Aber „Das Wochenende“ ist natürlich, neben der faszinierenden zwischenmenschlichen Geschichte um alte Freunde: ein Thriller. Und genau diese alte Freundschaftsgeschichte von Menschen, die sich nun nach längerer Zeit wiederbegegnen, baut Hannah Richell zu einem intelligenten und überzeugenden Plot aus. Wir Lesenden erleben das Wochenende aus unterschiedlichen Erzählperspektiven der Freunde. Und von Anfang an wird klar: Es ist etwas Schlimmes passiert. Eine Leiche wurde gefunden. Und wir sind mit dabei, wenn Detective Inspector Lawson und Detective Constable Barnett die Freunde einzeln befragen. Nach und nach setzt sich das Puzzle zusammen, das Autorin Richell entwickelt hat.
Schon am ersten Abend, am Lagerfeuer, geht es los. Die Kinder bekommen Marshmallows zum Grillen. Leider gibt es nur eine Tüte, und für jedes Kind nur zwei Stück. Auch Kip, der Adoptivsohn der Gastgeber Max und Annie, sitzt mit am Feuer. Er hat die Holzspieße zum Grillen geschnitzt, extra spitz. Kip, das wird im Laufe der Geschichte immer klarer, ist der große Unbekannte. Denn er ist verschlossen und weiß sich manchmal nicht anders zu wehren als mit Gewalt. Das wissen Max und Annie – als die sechsjährige Phoebe Davies, Dominics Tochter, Kip einen Marshmallow klaut, verletzt Kip die Kleine leicht. Nicht schön, aber Kinder hauen sich eben mal. Doch Dominic rastet aus und krallt sich Kip. Er agiert so rabiat, dass Max und Annie ihren Sohn retten müssen. Von da ab ist Kip völlig verstört, und Dominic Davies, der Alpharüde, hat Schaum vor dem Mund, wenn er Kip auch nur sieht. Für ihn ist der Zwölfjährige gefährlich, gestört und sollte definitiv nicht mit Samthandschuhen angefasst werden.
Der Vorfall am Lagerfeuer: ein Stimmungskiller. Klar. Alle gehen erst mal schlafen. Der nächste Tag wird hoffentlich besser. Aber schnell wird klar: Die Gruppe hat sich in zwei Lager gespalten – gegen oder für Dominic. Immerhin versuchen alle, sich zusammenzureißen. Alle außer Dominic. Noch ist das Wetter gut, die Frauen haben Pläne, und die Männer sollen auf die Kinder aufpassen. Klar, sagen die. Als auch noch eine Wetterwarnung einen massiven Sturm ankündigt und der Himmel einen seltsamen Orangeton annimmt, bricht Panik aus. Denn zwei der Kinder sind verschwunden ...
Sind 20 Jahre Freundschaft noch irgendetwas wert, wenn das alles vorbei ist? Diese Frage verhandelt Hannah Richell in „Das Wochenende“ in einer sprachlich wie psychologisch überzeugenden, hochspannenden Geschichte. Ihre Zeichnung der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander ziehen einen genauso in den Bann wie die Frage, was hier eigentlich passiert ist. Wer ist hier gestorben, und warum? Der Showdown punktet dann auch noch mit einer echten Überraschung ...
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